Reisefotografie Reportage

Unterwegs in Mazedonien

Wunderschöne Kalkfelsen, günstiger Aufenthalt und Rakija in Strömen: im mazedonischen Demir Kapija lockt ein Klettergebiet abseits des Mainstreams mit besonderen Vorzügen. Mehr als 150 sehr gut abgesicherte Sportkletterrouten, Mehrseillängentouren und Trad-Klettereien begeistern Anfänger, Kletter-Familien und Cracks gleichermaßen. Und dank zweier emsiger Russen werden es ständig mehr.

Eine Reise mit Michael Hoffmann – Gründer der Rotpunktschule

 

Text: Georg Kaaserer; Fotos: Kerstin Leicht

Wir brettern mit 130 kmh über die Autobahn. „Brettern“ ist das richtige Wort, denn der silberne Automatik-Mercedes von Alex, der uns am Flughafen von Mazedoniens Hauptstadt Skopje abgeholt hat, scheint so gut wie keine Stoßdämpfer mehr zu haben. Jede Bodenwelle, und davon gibt es eine ganze Menge auf dem „Motorway Alexander of Macedonia“, schlägt direkt durch auf die Rückbank, von der aus Kerstin und ich die vorbeiziehende Landschaft betrachten: sanfte mit Büschen und Bäumen bewachsene Hügel, nur verzeinzelt Dörfer und Städte, über lange Strecken auch mal gar kein Zeichen menschlicher Besiedlung. Auch auf der Autobahn selbst ist nicht viel los, das kleine Mazedonien, ein Binnenstaat mit weniger als zwei Millionen Einwohnern, eingezwängt zwischen Griechenland, Bulgarien, Serbien, Kosovo und Albanien, ist nicht gerade ein Wirtschaftswunderland. 

Vorne im Mercedes sitzt Michi Hoffmann, Bergführer, DAV-Ausbilder und Kletterbuchautor, und unterhält sich auf Englisch mit Alex, unserem Fahrer und russischem Spitzenkletterer. Alex Klenov, so sein voller Name, ist schon sein ganzes Leben in der Vertikalen in Eis und Fels unterwegs, war Trainer der russischen und kasachischen Sportkletter-Nationalmannschaft, zweimal nominiert für den Piolet d’Or (den Goldenen Eispickel, den „Oskar“ des Alpinismus), Teilnehmer verschiedenster Kletterwettbewerbe und Erstbegeher von Routen u.a. im Pamir, Karakorum und auf Baffin Island. Nach fünf Jahren Thailand hat er seine Liebe zu Mazedonien entdeckt, genauer gesagt für das Gebiet um Demir Kapija, einem Dreitausend-Einwohner-Städtchen rund 120 km südöstlich der Hauptstadt und ca. 80 km vom griechischen Thessaloniki entfernt. Dort versucht er nun, zusammen mit einem weiteren Russen, Igor Abdrakhmanov, ein wenig Klettertourismus in Gang zu setzen. 

Im Gegensatz zum mazedonischen Vorzeige-Bouldergebiet Prileb ist Demir Kapija bislang kaum bekannt, obwohl die erste Route schon 1974 erschlossen wurde. Heute haben die Kalkfelsen rund um das Städtchen, an dem die Flüsse Bošava und Vardar zusammenfließen, einiges zu bieten: über 150 Sportkletterrouten, ein gutes Dutzend Sektoren, 20 alpine, kurze Sportkletter-Mehrseillängen, 20 alpine Mehrseillängentouren bis 250m Kletterlänge, einige Trad-Routen. Und es werden ständig mehr: Alex und Igor sind fleißig am Einbohren, vor allem in den Wintermonaten. Sie sparen dabei nicht mit Bohrhaken, die meisten Linien gehen getrost als „übersichert“ durch. Es gibt Sektoren mit steiler Wandkletterei wie „Sahara“ mit langen Routen von 6a bis 8a (ein 80-Meter-Seil gehört unbedingt mit ins Gepäck, um z.B. mal die ersten beiden Seillängen einer Tour am Stück gehen zu können), Sinterklettereien á la Kalymnos in „Erotika“ (6b bis 7b+) oder „Arena“ (7a bis 8c), und geneigte Plattenschleichereien im „Klettertal“, in dem und um das herum sich die meisten Sektoren gruppieren. Dieses von Nord nach Süd ausgerichtete Seitental der Vardar, das auch an heißen Tagen Schatten bietet, gräbt sich tief in das Bergmassiv und ist nur per Auto gut zu erreichen: Der Zugang befindet sich zwischen zwei Tunnelabschnitten des „Motorway Alexander of Macedonia“. Aber auch ohne eigenen fahrbaren Untersatz ist das Umherkommen in Demir Kapija kein Problem, denn eine Taxifahrt kostet weniger als bei uns ein Busticket.

Generell lebt es sich extrem günstig in Mazedonien, nur die westlich geprägten Luxusansprüche muss man um ein oder zwei Grade herunterschrauben. Zusammen mit Michi sind Kerstin und ich unterwegs, um im Rahmen eines einwöchigen Klettertrainings von Michis Erfahrung zu profitieren, an unserer Klettertechnik zu feilen und abseits der ausgetretenen Pfade etwas völlig Neues kennenzulernen. Untergebracht sind wir für zehn Euro pro Nacht und Nase bei Igor, der eigentlich in Hamburg lebt, und seit ein paar Jahren eine kleine Kletterlodge in Demir Kapija betreibt. Sie bietet in drei mit Stockbetten ausgestatteten Zimmern Platz für maximal zwölf Kletterer und Kletterinnen, die sanitären Anlagen sind etwas „basic“. Wir fühlen uns dennoch sofort wohl hier, der ländlich-herbstliche Touch lässt uns runterfahren und die Hektik der Großstadt vergessen. 

Auf der „Partizanska“, der langen Straße, in der die Kletterlodge liegt, klappern Eselkarren und museumsreife Traktoren, und auch in den Gärten reift es: In dicken, aneinandergereihten Plastiksäcken gärt der aus der Weinmaische gewonnene, „Grappa“-ähnliche goldgelbe „Rakija“-Schnaps vor sich hin. Demir Kapija ist für seinen Wein bekannt, eines der drei großen Anbaugebiete Mazedoniens. Ein bischen „alien“ kommen wir uns im Städtchen schon vor, die Menschen auf der Straße schauen uns in bunte High-tech-Klamotten gekleidete Freunde von „Igor Alpinist“ mit einer Mischung aus Neugier und Die-haben-doch-einen-an-der-Waffel-Miene an. Das Grundprinzip, nach dem alle leben, heißt „Ima vremja“ – „Wir haben Zeit!“. „Niemand bewegt sich hier schneller als unbedingt nötig“, sagt Igor, und warnt uns schonmal vor:  „Die wichtigste Regel ist: Trinkt den Rakija nicht ganz aus, ansonsten ist das Glas sofort wieder voll.“

In den nächsten Tagen checken wir, gut instruiert von Igor und Alex und auch mal begleitet von den beiden, die Klettersektoren Demir Kapijas aus. Besonders angetan hat es uns die südseitig ausgerichtete Wand von „Sahara“, die nicht von ungefähr so heißt und sich vor allem im Sommer nur in der Früh oder am späten Nachmittag beklettern lässt, möchte man nicht als Dörrpflaume enden. Der Felsriegel thront oberhalb der Vardar mit einem tollen Blick auf das in die Landschaft eingebettete Demir Kapija. Wunderschöne und lange 20 bis 40 Meter-Routen gibt es hier wie „Kolibri“ (6a), „Fen Shuj“ („Fen“ tatsächlich ohne „g“, 6c+), „Rockland“ (7b) oder „Jelat“ (7b+), allesamt steile, diffizile Wandklettereien in bestem Fels, mit spannenden, abwechslungsreichen Cruxen. Die Bewertungen schmeicheln etwas dem Kletterer-Ego. Das ein oder andere „+“ der im französischen System bewerteten Routen darf weggestrichen werden – dann passt es aber. 

Von Sahara ausgehend lässt sich ein besonderes „Schmankerl“ erreichen, das uns Alex eines Morgens zeigt: Nach einer halbstündigen Wanderung seilen wir freihängend in die „Ziegenhöhle“ ab, kritisch beäugt von der namensgebenden Spezies. Die nach Süden offene Halbkugel ist klettertechnisch kaum erschlossen und bietet Potenzial für schwerste Routen, u.a. an Sintern. Den kommenden Winter über will Alex hier einiges einbohren, wie er ankündigt. Wir verlassen die Grotte mit Hilfe einer kurzen, leichten Mehrsseillängentour und steigen wieder nach „Sahara“ ab.

Am Abend sind wir im, laut Igor, besten Restaurant „Kutschkin“ der Stadt. Auf dem Vorplatz stehen ein paar Tische, wir setzen uns und plötzlich tragen andere, mazedonische Kletterer weitere Tische heran. Eine lange Tischreihe entsteht auf dem Vorplatz. Das Bier nimmt man sich aus dem im Freien stehenden Kühlschrank und lässt die Flaschen auf dem Tisch. Igor bestellt „Chopska Salata“, gegrillte Zuchini und Auberginen, die mit viel Knoblauch und grobem Salz garniert sind und himmlisch schmecken genauso wie die Tomaten und Gurken im Salat, die einen das westliche Wassergemüse schnell vergessen lassen. Drinnen feiert eine Rentner-Gesellschaft mit Balkan-Livemusik und Sir Taki ähnlichen Kreistänzen. Überall laufen Hunde rum und betteln nach Liebe und Essen. Zwischendurch verabschiedet sich Igor, weil er zu Frau und Kind muss. „Sagt dem Taxifahrer, ihr wollt zu ‚Igor Alpinist'“. Nach der Vorspeise dauert es eine Ewigkeit, bis weiteres Essen kommt – uns wird schon kalt. „Ima vremja“ halt.

Drei weitere Sektoren gefallen uns in den nächsten Tagen besonders gut: der hoch über dem „Klettertal“ gelegene Sektor „2Burg“, „Radar Peter“ und „Erotika“. „Den Sektor 2Burg haben vor ein paar Jahren zwei Russen eingebohrt, Alexander und Alexej“, erzählt Igor, „der eine stammt aus Jekaterinburg, und der andere aus St. Petersburg. Und die beiden haben nicht nur gebohrt, sondern auch gesoffen. Also hat es immer länger und länger gedauert, zum Schluss waren sie über zwei Monate da oben.“ Dabei sind erstaunlich schöne Routen wie die 22 Meter lange „Skalopendra“ entlang einer Rissverschneidung (6b) entstanden, oder „St. Peterburg“ (6c+; das „s“ ist wohl im Suff verschwunden), eine steile Wandkletterei mit diffizilem Hin- und Hergeschiebe im oberen Teil. Einen ähnlichen Charakter haben die Routen in „Radar Peter“ im Klettertal nördlich des Autobahndurchbruchs. Hier gibt es mit der Sektor-namensgebenden Route „Radar Peter“ eine nicht überbewertete 7a (UIAA 8), die steile, ausdauernde, grandiose Kletterei an Löchern und Leisten bietet – eine der ältesten Sportkletterrouten Demir Kapijas. Das Ambiente dieses Sektors ist etwas gewöhnungsbedürftig: Für den Neubau der Autobahn, der gerade im Gange ist, wurden zwei Tunnel-Brücken durch den Berg getrieben, die in dieser Umgebung irgendwie bombastisch, unnatürlich und etwas erdrückend wirken. Ganz anders Erotika: Der Sektor beherbergt einige wunderschöne überhängende Sinter-Klettereien in den Schwierigkeiten 6a bis 7b.

Was man von einem Kletterurlaub in Demir Kapija nicht erwarten darf: Party und Massenkletterfestivals á la Kalymnos. Für einen Ansturm von Horden von Kletterern wäre die Infrastruktur auch bislang gar nicht ausgerichtet. Im Städtchen gibt es nicht einen Sport-, geschweige denn Kletterladen, keinen „Scooter“-Verleih und nur zwei, drei Restaurants. Immerhin hat kürzlich eine Billard-Kneipe aufgemacht. Was man sehr wohl erwarten darf: entspanntes, entschleunigtes und sehr gut gesichertes Klettern in wunderbarer Natur, freundliche Locals, eine gute Betreuung durch Alex und/oder Igor und ein sowohl für Anfänger, Familien als auch Cracks geeignetes Klettergebiet. Und natürlich: „Ima vremja“.